Corona-Konsens versus Klimadebatte – die Rolle der Wissenschaft
Gastkommentar von Dr. Manfred Vohrer:
Unter dem Eindruck der existenziellen Gefährdung durch die Corona Pandemie schmelzen parteipolitische Unterschiede zusammen und zur Verhinderung eines exponentiellen Wachstums der Infizierten-Zahl beginnt die Politik sehr auf den Rat der Wissenschaft zu hören. Bei nahezu allen regierungsamtlichen Verlautbarungen sitzen die Virologen an der Seite der politischen Entscheider, um die Richtigkeit und Angemessenheit der jeweiligen angekündigten Maßnahme zu bestätigen. Neben der Bundeskanzlerin Angela Merkel ist es der Präsident des Robert Koch Instituts, Professor Dr. Lothar H. Wieler, der – weitgehend im Konsens mit vielen anderen qualifizierten Virologen in unserem Land – den Taktstock schwingt und der Politik sagt, wo es langgehen soll. Und ganz Deutschland findet dies letztlich richtig, denn abgesehen von Nuancen, die sich in der föderalen Differenziertheit der Ausgestaltung der Maßnahmen niederschlagen, besteht Konsens über die Notwendigkeit, Ausbreitung des gefährlichen Virus mit größter Entschiedenheit entgegenzugetreten. Dass dabei für einen noch unbestimmbaren Zeitraum zentrale Freiheitsrechte massiv eingeschränkt, Wirtschaft und Gesellschaft zu bislang unvorstellbaren Kosten in ein partielles Koma gelegt werden, wird auf Anraten der Wissenschaft zur Erreichung des Überlebens über Parteigrenzen hinweg in Kauf genommen – und das ist gut so.
Vor diesem Hintergrund wird jedoch die widersprüchliche Haltung der Politik zum Klimawandel und zum Ressourcenverbrauch offensichtlich. Seit der MIT-Studie vor nunmehr fünf Jahrzehnten weist uns eine mittlerweile überwältigende Mehrheit der Wissenschaftler darauf hin, dass die Ressourcen auf unserem Planeten Erde begrenzt sind und wir durch die Treibhausgas-Anreicherung unseren Planeten so aufheizen, dass er bei Fortsetzung unserer derzeitigen Verhaltensweise (business as usual) schon für unsere Enkel vielerorts nicht mehr für alle bewohnbar bleibt. Dies hält die Politik indes keineswegs davon ab, Regeln für Wirtschaft und Gesellschaft zu erlassen oder unverändert zu dulden, die zulassen, dass weiter an dem Ast gesägt wird, auf dem wir sitzen. Und dies gegen alle Empfehlungen der Wissenschaftler, die ökologisch verantwortbare Alternativen aufzeigen.
Die auf dem Weg zu der Verschlechterung der Lebensbedingungen seit Jahrzehnten prognostizierte Zunahme von katastrophalen Schadensereignissen wie Tornados, Dürren, Waldbränden, Starkregen mit Überschwemmungen und Temperaturanstiege mit Abschmelzen der Gletscher und Pole beherrschen längst die Schlagzeilen der Medien, aber die notwendigen Konsequenzen einer veränderten Lebensweise werden von der Politik nicht gezogen.
Es bedurfte der „Friday for Future“ Bewegung, um die Politik mit der Forderung wachzurütteln, den Wissenschaftlern mehr Gewicht in der Politikberatung zu geben. FFF brachte eine breite Debatte über die notwendigen gravierenden strukturellen Änderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, um das von der Weltklimakonferenz COP 21 in Paris gesetzte Ziel der Dekarbonisierung und nachhaltigen Ressourcennutzung zu erreichen.
Doch anstatt die identifizierten Maßnahmen mit der gebotenen Dringlichkeit anzugehen, beherrscht Parteiengezänk die Klimadebatte, und es gelingt Populisten bei Wahlen Stimmen zu gewinnen, die für eine Politik eintreten, welche im eklatanten Widerspruch zu allen vom Weltklimarat, dem deutschen Umwelt-Bundesamt (UBA) und vielen anderen Klimaexperten formulierten wissenschaftlichen Erkenntnissen steht.
Bei den derzeitigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie geht es in gleicher Weise wie bei der Klimapolitik um existenzielle Fragen des Überlebens auf unserem Planeten. In beiden Fällen handelt es sich um eine klar erkannte, wachsende Bedrohung, die unverzüglicher politischer Handlung bedarf, da Schutzmaßnahmen erst nach einer gewissen Zeit Wirkung zeigen. Beide Krisen haben eine gesellschaftsübergreifende, internationale Dimension. Und beide bedrohen insbesondere gewisse Alters- und Risikogruppen (beim Klima sind es indes nicht die Alten und Kranken, sondern unsere Kinder und Enkelkinder sowie die Bewohner von Schwellen- und Entwicklungsländern), die auf Schutzmaßnahmen und Solidarität der gesamten Gesellschaft angewiesen sind.
Selbst die entscheidenden Kurven, die unsere existenziellle Gefährdung dokumentieren, haben einen vergleichbaren Verlauf.
Hier die Corona-Kurve:
Da die Klima-Kurve:
Deshalb ist es angesagt, dass die Politik in beiden Feldern die Erkenntnisse der Wissenschaft konsequent nutzt, obwohl die Dringlichkeit der beiden Phänomene in der öffentlichen Meinung unterschiedlich gesehen wird: Weil bei COVID-19 sich jeder persönlich gefährdet sieht, entstand rasch eine Stimmung höchster Dringlichkeit und ein Wettlauf um wirkungsvolle Maßnahmen, wohingegen beim Klima die Folgen politischen Handelns oder Unterlassens global auftreten und sich meist nicht einzelnen Maßnahmen oder Akteuren zurechnen lassen. Generalisierend lässt sich jedoch die These vertreten, dass die Mehrzahl der Klimabelastungen von den Industrieländern verursacht werden und die Folgen primär Bewohner in Entwicklungsländern belasten – schon heute eine der Ursachen der Migration.
Das herausragende Ziel der Klimapolitik ist die Dekarbonisierung unserer Wirtschaft bis spätestens 2050. Auf EU-Ebene hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit ihrer neuen Wachstumsstrategie die Zeichen der Zeit erkannt: Der von ihr vertretene „European Green Deal“ soll die EU bis spätestens 2050 klimaneutral machen. Geplant ist ein kompletter Umbau von Energieversorgung, Industrie, Verkehr und Landwirtschaft. Sie will die Wissenschaft konsequent heranziehen und alle politischen Aktivitäten und Vorschläge der EU-Kommission vor ihrer Umsetzung auf ihre Klimawirkung hin überprüfen.
Die deutsche Klimapolitik sollte aus der Corona-Entscheidungsfindung lernen: Analog zur Rolle des Präsidenten des Robert-Koch-Instituts bei den Entscheidungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie könnte zukünftig Prof. Dr. Dirk Messner als Präsident des Umwelt-Bundesamts neben den Politikern sitzen und eine mit ihm abgestimmte Klimapolitik der Bevölkerung verständlich machen – als Stimme der Wissenschaft und unterstützt von den zahlreichen hochqualifizierten deutschen Klimaforschern und ökologiebewussten Wirtschaftswissenschaftlern.
Diese Forderung gilt nicht nur für die Exekutive auf allen politischen Ebenen, sondern auch für alle Parteien, die sich zu den Pariser Beschlüssen bekennen und sich schon heute für den „Tag nach Corona“ mit Vorschlägen zur „Entlastung“ der Wirtschaft übertreffen, möglichst rasch in alte Spuren zurückzukehren. Wir haben durch den Corona-Shutdown die einmalige Chance, den Wiederaufbau der Ökonomie von vornherein mit den Maßgaben der Ökologie, sprich: mit Ressourcenschonung, Ausbau Erneuerbarer Energien sowie Umwelt- und Klimaschutz zu verbinden.
Der gefürchtete Jojo-Effekt – dass Ressourcenverbrauch und CO2-Emissionen sehr schnell wieder auf das Niveau von vor Corona oder gar darüber hinaus ansteigen – ist unter allen Umständen zu vermeiden. Dementsprechend müssen staatliche Wiederaufbauprogramme, welche den aktuellen Wirtschaftsstabilisierungsmaßnahmen folgen werden, eine Lenkungswirkung in Sachen der Nachhaltigkeit erzielen – etwa indem KfW-Kredite, Kapitalbeteiligung des Bundes, EU-Mittel (>“Green Deal“!), Europäische Investitionsbank etc. an einen substantiellen Beitrag zum Erreichen der Paris-Ziele gekoppelt werden.
Wenn der Staat sich auf dem Weg des Abbaus der Corona-Einschränkungen für ein Konjunkturprogramm mit Steuergeld verschuldet, dann kann dies nur mit der klaren Zielsetzung sein, jetzt die erforderliche klimapolitische Umstrukturierung unserer Volkswirtschaft zu fördern, der zu dem aufwendigen Umbau von Energieversorgung, Industrie, Verkehr und Landwirtschaft notwendig ist. Und dies in enger Absprache mit den Wissenschaftlern, deren Ratschläge wir 50 Jahre lang nicht ernst genug genommen haben. Lasst uns aus den Corona Erfahrungen lernen!
Während in den beiden beschriebenen Politikbereichen die Forderung einer deutlich gewichtigeren wissenschaftlichen Beratung mit großer demokratischer Sensibilität vorangebracht werden soll, ist der breiten Öffentlichkeit kaum bewusst, dass es einen zentralen Bereich der Politik gibt, wo die Politiker die Entscheidungsfindung längst gänzlich den Experten überlassen haben, weil historische Erfahrungen bewiesen, dass dieser Bereich nicht der populistischen parteipolitischen Fingerhakelei überlassen werden darf: Die Geldpolitik mit so wichtigen Institutionen wie der Europäischen Zentralbank, der Europäischen Investitionsbank, der Deutschen Bundesbank und der Kreditanstalt für Wiederaufbau sind schon seit vielen Jahrzehnten in der Händen von Experten. Und wenn wir heute auf die mutige Rolle von Mario Draghi bei der Bewältigung der Banken- und Finanzkrise 2008 zurück blicken, können wir nur hoffen, dass Christine Lagarde und Werner Hoyer, Jens Weidmann und Günther Bräunig auf dem Weg aus der Corona-Krise ebenso erfolgreiche Beiträge leisten.
Bleibt noch eine Anmerkung eines lebenslang engagierten „Ökoliberalen“ an die Adresse seiner FDP:
Die FDP hatte schon 1971 in den Freiburger Thesen die Forderung „Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben“ aufgestellt und wollte umweltehrliche Preise – also die Internalisierung externer Kosten – durch die konsequente Anwendung des Verursacherprinzips erreichen. Dahinter steht die zentrale wissenschaftliche Erkenntnis, dass ein marktwirtschaftliches Wirtschaftssystems nur dann zu dem gewünschten Ergebnis einer optimalen Verwendung knapper Ressourcen kommt, wenn die Lenkungswirkung der Preise und Gewinne nicht durch falsch oder nicht angerechnete Umweltkosten verzerrt wird. Für die Klimapolitik, als wesentliche Komponente der Umweltpolitik, wurden diese wissenschaftlichen Erkenntnisse aus populistischen Überlegungen – nämlich im Wettbewerb mit den anderen Parteien Wählerstimmen „der Wirtschaft“ zu gewinnen – fünf Jahrzehnte mehr oder weniger vernachlässigt. Die Kosten der Folgewirkungen sind den Politikern spätestens seit den Berechnungen von Nicolas Stern bekannt, aber weitere Jahrzehnte vergingen, ohne auch nur die Subventionierung der Umweltbelastungen insbesondere in der Landwirtschaft und im Verkehr zu stoppen. Bei der von der Wissenschaft bewiesenen Dringlichkeit der politischen Maßnahmen ist jede weitere Verzögerung mit einer erheblichen Kostenprogression verbunden.
Auch heute vertritt die FDP mit der Mengensteuerung im CO2 Emissionshandel für alle Sektoren – also inklusive Wärme und Mobilität – eine konsequent ökoliberale Programmatik in der Klimapolitik, die auf Technologieoffenheit und Innovation setzt. Diese wissenschaftsbasierte Linie wird jedoch mit populistischen und auf Kurzzeit Wählerstimmen-Gewinne abzielenden „wirtschaftsfreundlichen“ Forderungen durchmischt – beispielsweise gegen die Windkraft oder zur Erhaltung der Arbeitsplätze im Braunkohleabbau und bei der Herstellung von Verbrennungsmotoren – die der FDP mit Recht in der öffentlichen Meinung jegliche Glaubwürdigkeit in der Klimapolitik rauben.
Die Umweltpolitik der FDP wurde dadurch seit 50 Jahren zum Nullsummenspiel und die wichtige Erkenntnis des früheren FDP-Vorsitzemden Walter Scheel findet leider keine Beachtung: Da sich die Liberalen nicht als Volkspartei verstehen, befinden sie sich in einer idealer Position. Mit einer auf Freiheit und Vernunft – und mit Vernunft ist auch die Einbeziehung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in die politischen Entscheidungen einbezogen – bauenden liberalen Politik, wie sie die FDP in ihren Freiburger Thesen schon 1971 formulierte, können wir sicher sein, dass mindestens 10 % der Wähler dies zu schätzen wissen und uns wählen.“ Der von Walter Scheel angeführte Bundestagswahlkampf 1972 stand unter dem Slogan „Vorfahrt für Vernunft“.
1972 F.D.P. – Bundestagswahl „Vorfahrt für Vernunft“
Kandidat Dr. Manfred Vohrer mit seinem Vorbild Walter Scheel
Es ist das historische Verdienst des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner, die Partei 4 Jahre nach der Wahlniederlage 2013 mit dem herausragenden Ergebnis von fast 10 % wieder in den Bundestag zurückgeführt zu haben. Wenn heute aber die Grünen/Bündnis 90 innerhalb von drei Jahren ihre Stimmen mehr als verdoppelt haben und die Liberale ihre halbierten, dann läuft in der FDP etwas „schief“ – und dies ist die Klimapolitik. Nach der Wahlschlappe der FDP bei der Hamburger Bürgerschaftswahl im Februar deutete Lindner an, „die FDP zukünftig ökologisch besser zu positionieren“. Die anstehende lange take-off Periode aus der Corona-Krise bieten die Gelegenheit zu einer öko-liberalen Standfestigkeit beim Umbau unserer Wirtschaft zur Nachhaltigkeit. Dann muss es aber Christian Lindner gelingen seine liberalen Fußtruppen in den Landtagen und den FDP-Landesverbänden auf die neue Marschzahl einzuschwören und die neue öko-liberale Linie nicht weiter mit populistischen Forderungen zu konterkarieren.
Zur Person:
Dr. Manfred Vohrer studierte nach abgeschlossener technischer und kaufmännischer Lehre in Freiburg Volkswirtschaft
1968
Gründungsmitglied der „Aktion Umweltschutz“ in Freiburg – heute BUND
1972 – 83
Freiburger FDP-Abgeordneter im Deutschen Bundestag
1989 – 94
Mitglied des Europäischen Parlaments
Seit 1999
pflanzt Vohrer Bäume zur CO2 Bindung
Bis heute ist Dr. Manfred Vohrer Vorstandsvorsitzender der global-woods international AG mit Aufforstungen in Afrika und Lateinamerika.